Nearshoring: Über Herausforderungen und Vorteile

© Lucie Brunner, privat

Über das Thema Nearshoring und damit verbundene Herausforderungen und Vorteile sprachen wir mit Lucie Brunner. Der Artikel ist Teil unserer dritten Praxisbroschüre "Aus dem Mittelstand - für den Mittelstand: Gemeinsam die digitale Transformation meistern".

Frau Brunner, Nearshoring ist zurzeit in aller Munde. Sie haben sich damit eingehend beschäftigt, was genau beschreibt der Begriff?

Lucie Brunner: Nearshoring bedeutet die Produktion in die Nähe von großen Absatzmärkten. Am Beispiel Europas sind das beispielsweise südliche EU-Staaten wie Portugal oder osteuropäische Mitgliedstaaten, wie Rumänien oder Bulgarien oder europanahe Produktionsstandorte wie die Türkei oder nordafrikanische Nachbarländer wie Tunesien. Nearshoring steht zwischen On-Shoring, der Produktion im eigenen Land, und Farshoring, der Herstellung auf anderen Kontinenten.

Nearshoring im Modebereich ist ein neuer Trend, richtig?

Nach Jahrzehnten, in denen die Fast-Fashion Karawane von einem asiatischen Billiglohnland ins andere gezogen ist, wird Europa wieder schick.

Das hat zum einen mit dem Trend in Richtung Nachhaltigkeit zu tun, zum anderen gibt es noch ganz andere praktische Vorteile: Ein Kleidungsstück aus Südostasien ist bis zu 30 Tage mit dem Schiff unterwegs, der Transport aus der Türkei nach Deutschland dauert nur drei bis sechs Tage. Wenn ein Influencer heute einen Trend setzt, will der Kunde das Produkt ohne große Wartezeit kaufen.

Wie läuft Nearshoring denn ganz praktisch?

Für den textilen Mittelstand war Nearshoring nie ein Fremdwort. Viele Unternehmen haben seit jeher enge Geschäftsbeziehungen oder eigene Standorte in Süd- oder Osteuropa oder auch in Nordafrika. Inzwischen gibt es daneben eine ganze Reihe von Start-ups, die den Fokus auf eine nachhaltige und transparente Produktion legen. Sie produzieren ihre Musterteile in Deutschland und lassen in Europa oder im nahen europäischen Umfeld produzieren.

Auf welche Hindernisse stoßen Unternehmen, die die Fertigung aus Asien Richtung Europa zurückholen wollen?

Sie stoßen an Kapazitätsgrenzen. Und wenn die Nachfrage größer ist als der Markt, steigen natürlich auch die Preise. Deshalb ist es so wichtig, an den europäischen und europanahen Produktionsorten in Digitalisierung und Automatisierung zu investieren.

Ist die Individualisierung von Mode ein Trendbeschleuniger für Nearshoring?

Ja, weil sie mehr nach Bedarf und weniger auf Halde produzieren. Wir haben ja schon einige Erfahrungen in Deutschland, etwa mit einer Microfactory. Auch der Turnschuh, den sich der Kunde ganz individuell auf den Fuß „schneidern“ lassen kann, ist keine neue Erfindung. Es gibt dennoch etliche Studien, die auf absehbare Zeit keine massenhafte Rückverlagerung der Bekleidungsproduktion aus Asien Richtung Europa vorher sehen, schon aus Preisgründen. Ich persönlich bin da aber anderer Meinung, weil der Trend auch bei der Bekleidung eindeutig Richtung Nachhaltigkeit und damit Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz geht. Wenn wir jetzt noch schneller als bisher in Automatisierungs- und Digitalisierungstechnologien investieren, um personalisierte Produkte wie maßgeschneiderte Bekleidung oder personalisiertes Design herzustellen, wird sich Nearshoring mehr und mehr durchsetzen. Das bringt uns auch bei der Kreislaufwirtschaft voran. Und es gibt weniger Bekleidung, die fürs Lager produziert wird und am Ende vielleicht nicht verkauft wird.

Wenn Sie ein Unternehmen hätten, würden Sie nearshoren und warum?

Ja, auf jeden Fall. Für mich spielen Nachhaltigkeit sowie faire Arbeitsbedingungen eine große Rolle. Daher wäre mein Wunsch, die Strukturen so regional wie möglich aufzubauen. Auf alle Fälle würde ich mir wünschen, dass Bekleidung künftig wieder an Wert und Qualität gewinnt und dass das Design und die Kreativität, die hinter der Bekleidung stecken, trotz allem nicht darunter leiden.

 

Weitere Expertengespräche, Unternehmerstimmen und Praxisbeispiele finden Sie in unserer dritten Praxisbroschüre "Aus dem Mittelstand - für den Mittelstand: Gemeinsam die digitale Transformation meistern", die Sie hier einsehen können.

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